Religionsgeschichtliche Anmerkungen zu Paul Celans Gedicht „Mandorla“

 Apsiskalotte Chapelle des Moines (Berzé-la-Ville) mit der Freske  „Vision Christi inmitten der Apostel“ 

Mandorla

In der Mandel – was steht in der Mandel
Das Nichts.
Es steht das Nichts in der Mandel.
Da steht es und steht.

Im Nichts – wer steht da? Der König
Da steht der König, der König.
Da steht er und steht.

Judenlocke, wirst nicht grau.

Und dein Aug – wohin steht dein Auge?
Dein Aug steht der Mandel entgegen.
Dein Aug, dem Nichts stehts entgegen.
Es steht zum König.
So steht es und steht.

Menschenlocke, wirst nicht grau.
Leere Mandel, königsblau.

Paul Celan (1920 – 1970)

Paul Celans Gedicht „Mandorla“ erschien erstmals in seinem Gedichtzyklus „Niemandsrose“ aus dem Jahr 1963. Joachim Schulze zählt es zu den „dunklen Gedichten“. Um es zu verstehen, sei es nötig „den Bezugsrahmen zu finden, in dem sie sinnvoll gelesen werden können“.[1]  Die Feststellung ist durchaus berechtigt, da die einzelnen Motive dies Gedichtes  tatsächlich sehr eng aufeinander bezogen sind. Bild für Bild, Metapher für Metapher fließen gleichsam aus einer Quelle: der Mystik.

Ikonographisches

Ich lasse dabei zunächst noch offen, mit welcher Art Mystik wir es dabei zu tun haben, christlicher, jüdisch-kabbalistischer oder buddhistischer. Für Schulze gibt der aus der „kunsthistorischen Ikonographie“ stammende Titel des Gedichts eindeutig einen „christlichen Bezugsrahmen“ vor, aber solche Eindeutigkeit lässt sich dem Gedicht selbst keinesfalls entnehmen. Richtig ist, dass der Begriff „Mandorla“ (italienisch: „Mandel“) aus der christlichen Kunstgeschichte stammt und sich auf Darstellungen Christi oder auch Mariens bezieht. Die heiligen Figuren werden dabei von einer mandelförmigen Aura („Aureole“, „Nimbus“) umgeben und auf diese Weise von der Umwelt abgegrenzt. Die Mandorla ist somit eine Art „Ganzkörperversion“ des bekannten Heiligenscheins, wobei sie im Gegensatz zum Heiligenschein jedoch keine kreisförmige, sondern elliptische bzw. mandelförmige Gestalt hat.

Richtig ist aber auch, dass das mit dem Begriff „Mandorla“ Gemeinte der Sache nach viel älter ist und schon auf buddhistischen Abbildungen des 2. Nachchristlichen Jahrhunderts nachgewiesen werden kann.[2] Ungefähr von diesem Zeitraum an finden sich in der buddhistischen oder hinduistischen Kunst Darstellungen Buddhas oder anderer Heiliger mit einer sie umgebenden, zumeist elliptisch gestaltete Aureole bzw. Mandorla. Man hat sie mit der hinduistischen Yoni, einer Darstellung der Vulva, in Beziehung gesetzt, mitunter aber auch mit der von den Pythagoräern stammenden Vesica Piscis („Fischblase“).[3] Danach wäre die mandelförmige Mandorla nichts anderes als die Schnittmenge zweier Kreise, die ihrerseits ganz unterschiedlich interpretiert werden können: Himmel und Erde, Geist und, Heiliges und Profanes,  Gottheit und Menschheit etc.

Ich möchte auf diese Zusammenhänge hinweisen, ohne eine Entscheidung über die Art der Mystik zu treffen, von der sich Celan inspirieren ließ. Überhaupt erschiene mir jede allzu enge religiöse Festlegung des Motivs fragwürdig, da der schwebende, ambivalente Charakter der Celanschen Lyrik damit nicht vereinbar wäre. Mir ging es mit dem Hinweis auf die buddhistische Herkunft der Mandorla lediglich darum, die ikonographie- und religionsgeschichtliche Tiefendimension des Symbols anzudeuten, dessen Geschichte, was häufig vergessen wird, nicht erst mit dem Christentum begann (so wenig übrigens wie die des „Heiligenscheins“, der bekanntlich ebenfalls aus dem Hinduismus übernommen wurde). Dabei spielt es keine Rolle, ob Celan sich dieser Dimension tatsächlich immer voll bewusst gewesen ist.

Kein Zweifel besteht daran, dass der biographische Anknüpfungspunkt offenbar ein Besuch der Chapelle des Moines (Berzé-la-Ville) im südlichen Burgund war, wo Celan Gelegenheit hatte, die Apsiskalotte mit der Freske „Vision Christi inmitten der Apostel“ zu besichtigen.[4] Man kann das Freskogemälde noch heute studieren; es zeigt Christus als königlich thronenden Pantokrator  in einer Mandorla, dazu (außerhalb derselben) eine Gruppe von Aposteln, alles auf „königsblauem“ (schon etwas verblichenem)  Grund.

Leere Mandel: „Leere Transzendenz“ oder Negative Theologie?

Auch in Celans Gedicht gibt es einen „König“ in einer „königsblauen“ Mandel. Paradoxerweise jedoch ist diese Mandel zugleich leer, bzw.  wie es in der ersten Strophe des Gedichts heißt: „Es steht das Nichts in der Mandel.“ Es ließe sich dabei an jene „leere Transzendenz“ denken, die der Romanist Hugo Friedrich (in seinem Standardwerk „Strukturen der modernen Lyrik“)[5] als Kategorie moderner Dichtung entdeckte. Im Rahmen seiner Mallarmé-Interpretation bezeichnete Friedrich damit den „leeren Horizont“ des aus allen metaphysischen und glaubensmäßigen Geborgenheiten herausgefallenen modernen Menschen. Celans „leere Mandel“ wäre somit ein Symbol bzw. eine Chiffre für den „leeren Himmel“  nach dem „Tode Gottes“. Eine solche Interpretation wäre durchaus verlockend, steht allerdings im Widerspruch zu anderen Aussagen des Gedichts und vermag vor allem das Paradox des in der Mandel gleichzeitig anwesenden und nicht anwesenden Nichts und Königs nicht zu erklären.

Tatsächlich führt, wie bereits bemerkt, keine moderne „Gott-ist-tot-Theologie“, sondern allein die Mystik zur Lösung des Problems.  Paradoxe Formulierungen zur Darstellung des „Unaussagbaren“ sind bei den Mystikern nichts Seltenes. In vielen Fällen – so z.B. im Zen-Buddhismus – dient das Paradox geradezu als „Sprungbrett“ zur Erlangung mystischer, jenseits von Sprache und Logik erreichbarer Erkenntnis.

Auch das in der Mandel stehende „Nichts“ fügt sich gut in diesen Rahmen. Denn mystische Theologie ist ja in der Regel „negative Theologie“. Entweder wird das Unaussagbare durch „apophatische“, d.h.  durch sich überbietende und sich steigernde Aussagen, zum Ausdruck gebracht, nicht selten, wie bei dem unter dem Pseudonym des „Dionysius“ schreibenden Mystiker, in einem „Rausch … erhöhender Superlative“: das „Über-namenhafte“ ist zugleich das „Un-nennbare“, das „Über-wesentliche“ zugleich das „Un-fassbare“ usw. [6] Oder aber – und dies geschieht mitunter gleichzeitig – der Mystiker bevorzugt als „via negationis“ rein negative Wendungen, wie z.B. Plotin : „… wir sagen, was es [= das Eine bzw. Absolute] nicht ist; was es ist, sagen wir nicht.“[7] Der mittelalterliche Mystiker Meister Eckehart nennt in seiner Predigt über die Bekehrung des Paulus Gott ein „Nichts und ein Etwas“ („Got ist ein niht, und got ist ein iht“).[8] Auch für Jacob Böhme ist Gott „weder Natur noch Creatur, was Er in sich selber ist, weder dis noch das, weder hoch noch tief. Er ist der Ungrund und Grund aller Wesen, ein ewig Ein, da kein Grund noch Stätte ist. Er ist der Creatur in ihrem Vermögen ein Nichts, und ist doch durch alles. Die Natur und Creatur ist sein Etwas, damit Er sich sichtbar, empfindlich und findlich machet, beydes nach der Ewigkeit und Zeit…“[9] Mechthild von Magdeburg dichtet:

„Du sollst minnen das Nicht
Du sollst fliehen das Icht“ [10]

Und der schlesische Mystiker Angelus Silesius fasst die Summe seiner mystischen Einsichten in Form eines Alexandriners pointiert zusammen:

„Gott ist ein lauter nichts, Ihn rührt kein Nun noch Hier:
Je mehr du nach Ihm greiffst, je mehr entwird Er dir.“[11]

Das Nichts als Ursprung und göttlicher „Ungrund“ begegnet bereits in den frühen Texten des Hinduismus. In den Upanishaden wird das Urwesen zwar anfangs noch als weder seiend (sad) noch nichtseiend (asad) bezeichnet (na asad, na u sad), doch dann  verschiebt sich das Gewicht zugunsten des Letzteren. In der Taittirîya-Upanishad lesen wir: „Nichtseiend war zu Anfang diese Welt; aus diesem ist das Seiende entstanden“ (2,7);[12] ähnlich heißt es im Chândogya-Upanishad des Sâmaveda: „Diese Welt war zu Anfang nichtseiend, dieses [Nichtseiende] war das Seiende; dieses wurde zu der Realität“ (3,19,1).[13]

Die Lehre (die ein wenig im Widerspruch zu den von Buddhisten geübten Verzicht in Bezug auf die Entscheidung metaphysischer Fragen steht), wird später auch als genuin buddhistisch betrachtet. Für den indischen Philosophen Vācaspati Miśra steht fest: „Nach der Ansicht der Buddhisten geht das Seiende aus dem Nichtseienden hervor…“[14]

Celan und die Kabbala

Was für die christliche und hinduistische bzw. buddhistische Mystik zutrifft, gilt in ähnlicher Weise auch für die jüdische, die Kabbala, die ja im Grunde nichts anderes ist als östliche (indische/buddhistische) Spiritualität im jüdischen (Schrift-)Gewand. Was dort der „Ungrund“ oder das Nichts oder Leere ist, ist für den Kabbalisten das En-Sof, d.h. „ein unendliches, unbegrenztes, mit sich selbst absolut identisches, in sich selbst absolut identisches, in sich selbst einiges attributloses Wesen“.[15]  Wörtlich bedeutet der hebräische Ausdruck „kein Ende“, also das Grenzenlose, Unbegrenzte,[16] ein Aspekt, der auch dem indischen Begriff des Shunyata (= Leere) zugesprochen werden kann. Wie bei den Buddhisten entsteht die Schöpfung in der Kabbala aus dem Ur-Nichts (Ajin Gamur). Die als Mittler zwischen dem Ur-Nichts und dem Kosmos fungierenden Schöpfungskräfte werden als Sefirot bezeichnet.

Der Hinweis auf die jüdische Mystik ist in unserem Zusammenhang notwendig, weil sich Celan erwiesenermaßen intensiv mit der Kabbala beschäftigte, die er durch Bekannte wie Martin Buber und den Kabbala-Experten Gershom Scholem kennengelernt hatte.[17]  Es ist also sehr wohl möglich, wenngleich es sich nicht mit Sicherheit beweisen lässt, dass Celan die durch die Freskenmalerei in der Apsis der Chapelle des Moines empfangene Inspiration mit den jüdisch-kabbalistischen Elementen ausgestaltete, die er bei Scholem und Buber kennengelernt hatte.

Mit jüdisch-kabbalistischem, aber auch christlichem (wohl weniger buddhistischem) Denken vereinbar ist die paradoxe Identifizierung von Nichts und König. Die Anschauung vom Königtum Gottes ist in der jüdischen und infolgedessen auch in der christlichen Tradition so geläufig und so weit verbreitet, dass wir sie nicht ausführlich zu belegen brauchen (man denke an die alttestamentlichen „Gott-König“-Psalmen,  Ps 47; 93; 95-99) . Scholem  spricht mit Bezug auf die jüdische Mystik vom Übergewicht, „das die Auffassung Gottes als König in manchen ihrer Strömungen hatte“, sowie davon, dass die einschlägigen Texte ,‚nicht immer zwischen dem verborgenen Gott, dem deus absconditus, und seiner Offenbarung als König, Schöpfer“ unterschieden.[18]

Aug und Mandel

Auch die dritte Strophe weist auf den mystischen Bezugsrahmen des Gedichts:

„Und dein Aug – wohin steht dein Auge?
Dein Aug steht der Mandel entgegen.
Dein Aug, dem Nichts stehts entgegen.“

Als Metapher für die Schau bzw. visio  der bis dahin verborgenen spirituellen Wirklichkeit hat das Auge überall in der Mystik  eine zentrale Bedeutung, freilich nicht das körperliche Auge, sondern das geistige, da das körperliche Auge bei der mystischen Schau geschlossen bleibt. Michael Laitman: „Wenn Kabbalisten zum ersten Mal diese allumfassende Wirklichkeit spüren, nennen sie es ‚das Öffnen der Augen‘. Das Öffnen der Augen ist ein Vorgang, bei dem wir dieselben Stufen wieder nach oben steigen, die wir aus dem vorherigen unendlichen Zustand (Ejn Sof) hinabgestiegen sind.“[19]

Auffallend ist, dass das Auge „der Mandel“ bzw. „dem Nichts“ „entgegen“ steht. Man hätte erwartet, dass die Subjekt-Objekt Spannung durch den mystischen Vorgang des Schauens  aufgelöst und in die Einheit überführt bzw. „aufgehoben“ wird. Die Einheit zwischen beidem besteht aber nur in der Ähnlichkeit der äußeren Form: der Mandelgestalt der Mandorla und jener des Auges. Eine Vereinigung im traditionellen Sinne einer unio mystica wird nicht angedeutet. Möglicherweise macht sich hier Martin Bubers Einfluss geltend, für den, wie Cornelia Muth schreibt, „die Wahrheit nicht mehr in der mystischen Einheit“ lag, sondern … nur allein in der Begegnung. Mit Ich&Du entzieht sich Buber darüber hinaus dem Interesse an fernöstlichen Religionen. Von da an beziehen sich seine Gedanken und sein ganzes Leben auf den biblischen Gott.“ [20]

Wie sich gezeigt hat, erweist sich die interpretatio mystica bei der Deutung des Gedichts „Mandorla“ als ausgesprochen fruchtbar, insofern zentrale Schlüsselwörter aus einem einzigen kohärenten  Bezugsrahmen heraus relativ leicht interpretiert und entschlüsselt werden können. Dies galt insbesondere für die Begriffe „Nichts“, „König“ und „Aug‘“.

„Stehen“ als mystischer Terminus

Wie aber verhält es sich mit dem Begriff des „Stehens“, der in dem Gedicht eine zentrale Bedeutung einnimmt, wie das  14 malige Vorkommen (als Verbum) belegt?  Wie passt der Begriff in den hier vorausgesetzten mystischen Bezugsrahmen?

Eigenartigerweise haben die meisten Interpreten darauf bisher noch keine plausible Antwort gefunden, so dass sie infolgedessen auf eine kohärente Interpretation verzichten. „Diese Starre  sowohl auf der Seite des Geschauten wie des Schauenden“, so Schulze,  „steht in seltsamem Widerspruch zu dem, was z. B. Gershom Scholem und auch Martin Buber über das mystische  Erlebnis generell aussagen.“ Die mystische Erfahrung mit dem Leben, so Schulze, sei „doch wohl (sic!) das Gegenteil von Starre.“ Dass die Starre des Schauens allerdings nicht ganz ohne Beispiel ist, soll nach Schulze aus einer Passage von Dantes „Göttlicher Komödie“(Paradiso) hervorgehen. [21]

Immerhin bemüht sich Schulze, als bekanntester Vertreter einer interpretatio mystica, darum, seinen Ansatz durchzuhalten. Bei vielen Interpreten wird noch nicht einmal der Versuch dazu unternommen. Statt den Begriff konsequent aus dem bisherigen Zusammenhang zu deuten, beginnt man mit einem interpretatorischen Neuansatz: Die mehrmalige Wiederholung des Verbums „stehen“ soll auf das „starre Verharren des Ich bei der Begegnung mit dem Mandel-Nichts-König“ hinweisen. „In Celans Gedicht Mandorla aus dem Gedichtband Die Niemandsrose wird zwar auf Jesus als ‚König‘ der Juden noch angespielt, letztlich verkehrt er [Celan] diese Symbolik aber in Versehrtheit, Tod und Leere.“[22] Häufig werden biographische Daten aus dem Leben Celans ins Spiel gebracht (Holocaust-Erleben, Tod der Eltern), die  erklären sollen, was aus dem Zusammenhang  nicht erklärt werden kann.

Was von diesen Interpreten, aber selbst von Schulze übersehen wurde: Der Terminus des „Stehens“ ist als Metapher für die Unwandelbarkeit Gottes in Mystik, Theologie und Philosophie keine Unbekannte. Meister Eckehart spricht in seiner 48. Predigt vom „einfachen stillstehenden göttlichen Sein, das weder gibt noch nimmt“. In seiner 15. Predigt zitiert er den antiken Philosophen Boethius, der, die aristotelische Vorstellung vom unbewegten Beweger aufnehmend, sagt:“ Gott ist ein unbewegliches Gut, in sich selbst stillstehend, unberührt und unbewegt und alle Dinge  bewegend.“

Doch schon der  jüdische Religionsphilosoph Philo von Alexandrien, der für Celan sicherlich kein Unbekannter war, sprach in seiner Schrift über die Verwirrung der Sprachen von dem „ewig stehenden Gott“ (De mutatione nominum 30). Der Satz: „Ich sah den Ort, wo der Gott Israels stand“ (2. Mos. 24,10), soll nach Philos allegorischer Interpretation „seine Unwandelbarkeit durch sein Stillstehen und seine Gegründetheit“ andeuten.

Leisegang verweist in diesem Zusammenhang noch auf eine Passage aus der Septuaginta, in der es von Abraham heißt: „Er war ein Hestos, ein Stillstehender, gegenüber [=ἐναντίον, Anmerkung von mir] dem Herrn“ (1 Mos 18,22). Nach Philo soll diese Stelle so verstanden werden, dass „jeder, der sich Gott nähern will … selbst ein Stillstehender, ein Hestos, werden muss.“ [23] Das ist eine zweifellos korrekte Wiedergabe der Lehre des alexandrinischen  Religionsphilosophen. Sie könnte auch als Schlüssel zum Verständnis dafür dienen, warum bei Celan sowohl Mandorla/Mandel wie auch Auge parallel als „stehend“ bezeichnet werden: Dadurch, dass Nichts und König dem Auge entgegenstehen, wird das Auge selbst in die göttliche Unwandelbarkeit hineingezogen. Dem belesenen und in mystischen Angelegenheiten nicht unbeschlagenen Dichter wäre ein solcher Gedanke sicherlich zuzutrauen. Selbst das „entgegen“ (= ἐναντίον) könnte auf diese Weise seine Erklärung finden.

Auch in der hermetischen Schrift Poimandres verwandelt sich die Seele des Mysten schließlich selbst in die Kräfte, die er geschaut hat (1,7). Ebenso spricht Plotin in diesem Zusammenhang von der  stasis, die den Mysten bei der Schau des Göttlichen ergreift, einem „Stillstehen im Göttlichen“. [24]

Schließlich sei noch ein Hinweis auf die Gnosis, besser auf den „Vater“ der christlichen Gnosis, den Erzketzer Simon von Samarien, erlaubt. In der von Hippolyt überlieferten „Refutatio“, die zu Recht oder Unrecht Simon zugeschrieben wird, bezeichnet der Autor als „unendliche Kraft“ den, „der steht, gestanden ist, stehen wird“ (Ref  6,12). Auch soll sich Simon nach Aussage der Kirchenväter, denen freilich nicht immer zu trauen ist, im Anschluss an seinen Konkurrenten Dositheus selbst als „Stehender“, d.h. Hestos, bezeichnet haben.

Darüberhinaus wissen die sogenannten (judenchristlichen) Recognitiones noch zu berichten, Simon habe diesen Titel gebraucht, weil er behauptet habe, unsterblich zu sein. Sein Fleisch sei durch die Kraft der Gottheit dauerhaft gemacht worden, so dass es in Ewigkeit nicht verwesen könne.  „Daher wird er auch der Stehende genannt, weil er durch keine Verwesung fallen (decidere) könne“.[25]

Auch hier sticht die Parallele zum Celan-Gedicht ins Auge, und man mag zumindest die Frage stellen, ob Celan den Zusammenhang von „Stehen“ und Unvergänglichkeit, („Judenlocke, wirst nicht grau“ bzw. „ Menschenlocke, wirst nicht grau.“)  der Lektüre dieser oder ähnlicher theologischer Texte verdankte.

Doch auch derjenige, dem dies eher unwahrscheinlich dünkt, möge bedenken: Mitunter weiß ein Gedicht mehr als sein Autor.

 

 

[1]             Jörg Frey, Jan Rohls, und Ruben Zimmermann, Metaphorik und Christologie, 2012, 366, [zitiert 22. Juni 2018]. https://doi.org/10.1515/9783110901221.

[2]             „The earliest, clearly datable artistic representation of the mandorla anywhere occurs in the first datable figural representation of the Buddha with halo and mandorla on a gold coin of King Kanishka (r. AD 110–126 or 126–146)”. Cornelius Chang in: Andreas Speer und Philipp Steinkrüger, Hrsg., Knotenpunkt Byzanz: Wissensformen und kulturelle Wechselbeziehungen (Miscellanea Mediaevalia 36; Berlin: de Gruyter, 2012), 819.

[3]             Ian McLean, Double Desire: Transculturation and Indigenous Contemporary Art (Cambridge Scholars Publishing, 2014), 176.

[4]             Frey, Rohls, und Zimmermann, Metaphorik und Christologie, 367.

[5]             Hugo Friedrich und Jürgen von Stackelberg, Die Struktur der modernen Lyrik: Von der Mitte des neunzehnten bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts (1. Aufl.; Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 2006).

[6]             De divinis nominibus13 3. Vgl. Marco S. Torini, „Apophatische Theologie und göttliches Nichts – Über Traditionen negativer Begrifflichkeit in der abendländischen und buddhistischen Mystik“, in Tradition und Translation. Zum Problem der interkulturellen Übersetzbarkeit religiöser Phänomene (Berlin, New York: De Gruyter, 1994) 493–520, hier 509.

[7]              Enn. 5,3,14.

[8]              Udo Kern, „Gottes Sein ist mein Leben“, Philosophische Brocken bei Meister Eckhart (Berlin, Boston: De Gruyter, 2012), 148.

[9]              Theosophische Sendbriefe, Brief 47, 34; Pierre Deghaye, „Jakob Böhmes Theosophie: die Theophanie in der ewigen Natur“, in Gnosis und Mystik in der Geschichte der Philosophie (Hrsg. Peter Koslowski; Zürich & München: Artemis, o. J.) 151–67, hier 155.

[10]            Mechthild (von Magdeburg), Offenbarungen der Schwester Mechthild von Magdeburg oder das fliessende Licht der Gottheit: aus der einzigen Handschrift des Stiftes Einsiedeln (Hrsg. Gallus Morel; Manz, 1869), 24f (35).

[11]            Angelus Silesius, Des Angelus Silesius Cherubinischer Wandersmann nach der Ausgabe letzter Hand von 1675, vollständig herausgegeben und mit einer Studie „Über den Wert der Mystik für unsere Zeit“ (Hrsg. Wilhelm Bölsche; Jena: Diederichs, 1905), 4 (25).

[12]            Paul Deussen, Sechzig Upanishad’s des Veda: Aus dem Sanskrit übersetzt und mit Einleitungen und Anmerkungen versehen (3. Aufl.; Leipzig: Brockhaus, 1921), 231.

[13]            Deussen, Sechzig Upanishad’s des Veda: Aus dem Sanskrit übersetzt und mit Einleitungen und Anmerkungen versehen, 116.

[14]            Richard Garbe, Die Samkhya-Philosophie: Eine Darstellung des indischen Rationalismus (Leipzig: Haessel Verlag, 1917), 24, 263f.

[15]            Adolph Jellinek, Beiträge zur Geschichte der Kabbala (Leipzig: Fritzsche, 1852), 62.

[16]            = אין סוף  ēyn sōf

[17]            Frey, Rohls, und Zimmermann, Metaphorik und Christologie, 368.

[18]            Zitiert nach Joachim Schulze, „Mystische Motive in Paul Celans Gedichten“, Poetica 3 (1970) 472–509, hier 477.

[19]            Michael Laitman, Quantum Kabbala: Neue Physik und kabbalistische Spiritualität (Berlin: Allegria, 2007), 55.

[20]            Cornelia Muth, „Zum Hintergrund von Martin Bubers Ich&Du“, Gestaltkritik 2 (2004), http://www.gestalt.de/muth_buber.html.

[21] Schulze, „Mystische Motive in Paul Celans Gedichten“, 481ff.

[22] Günter Butzer und Joachim Jacob, Metzler Lexikon literarischer Symbole (Springer-Verlag, 2012), 258.

[23] Hans Leisegang, Die Gnosis (Bd. 32, 5. Aufl.; Kröners Taschenausgabe; Stuttgart: Kröner, 1985), 63.

[24]            Karlmann Beyschlag, Simon Magus und die christliche Gnosis (Bd. 16; Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament; Tübingen: Mohr, 1974), 44.

[25]            PsCl Rec 2:7 hinc ergo et Stans appellatur, tamquam qui non possit ulla corruptione decidere.

 

 

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