„Muschelchen oder Zwiebelchen“ – Wissenswertes über den kynischen Philosophen Epiktet

Zu den wichtigsten Vertretern der jüngeren Stoa gehört der aus Hierapolis in Phrygien stammende Philosoph Epiktet (ca. 50–138 n. Chr.). Epiktet war als Sklave nach Rom gekommen. Dort war er später von seinem  Herrn freigelassen worden und hatte als Hörer des Philosophen Musonius selber zu philosophieren begonnen.  Nachdem er und weitere Philosophen  aus Rom verbannt worden waren, wirkte er bis zu seinem Ende in Nikopolis bei Actium.

Obwohl von ihm selber keine  einzige Zeile erhalten ist, verbindet sich sein Name mit einem Büchlein, das als ein  Weltbestseller der Nachttischliteratur gelten kann: dem „Handbüchlein der Moral“. Das Buch stammt ebenso wie die vier erhaltenen Bücher seiner Lehrvorträge (Diatriben) aus der Feder seines Schülers Arrian, und stellt eine Art Summe seiner Philosophie dar.

Die Grundgedanken der Philosophie, die ohne das System der älteren Stoa auskommt, sind schnell dargestellt. Sie basieren wie beim Kynismus auf dem Gedanken der Freiheit, die als höchstes Gut gilt. Es geht um die Unterscheidung von Dingen, die frei und denen, die uns von der Welt abhängig machen und versklaven. Frei macht alles, was  „in unserer Gewalt“ ist, dazu gehört: „Meinung, Trieb, Begierde, Widerwille: kurz: Alles, was unser eigenes Werk ist.“ Unfrei dagegen machen uns die äußeren Dinge, die „nicht in unserer Gewalt“ stehen, wie „Leib, Vermögen, Ansehen, Ämter, kurz: Alles, was nicht unser eigenes Werk ist.“

Der Fehler der meisten Menschen besteht darin, beide Sphären miteinander zu verwechseln. Statt zu erkennen, dass Meinungen und Begierden von ihnen selber abhängen, und darüber zu herrschen, lassen sie sich von ihnen in Besitz nehmen und sich von ihnen beherrschen. Dabei könnte ein einziger Akt des Willens sie frei machen und ihnen die Herrschaft in ihrem eigenen Haus wieder zurückgeben.

Umgekehrt glauben Menschen, sich zu Herren über Dinge machen zu können, die keineswegs in ihrer Gewalt stehen. Doch sind für jeden, der z.B. meint, Krankheit, Armut oder Tod meiden zu können, Unfreiheit und Unglück vorprogrammiert.

Dass nicht die Dinge selber es sind, die den Menschen beunruhigen, sondern ihre Meinung über die Dinge, zeigt nach Epiktet der Tod. Nicht er selber, „sondern die Meinung von dem Tod, dass er etwas Schreckliches sei, das ist das Schreckliche“ (Ench 5).

Zur Illustration seiner Lehre bedient sich Epiktet häufig des Beispiels von Personen, die  bei Kynikern und Stoikern inzwischen Vorbildcharakter angenommen hatten, darunter Herakles, Sokrates – und immer wieder Diogenes. Allerdings wird das Diogenesbild bei Epiktet sehr stark geschönt. Die diogenische Schamlosigkeit (anaideia) wird gerne unterschlagen und sogar die Bettelei bleibt bei ihm unerwähnt.  Dass Diogenes im Grunde wohl ein Agnostiker und Religionskritiker war, wird ebenfalls ausgeblendet. Stattdessen hat Epiktet sein eigenes Verständnis von der Aufgabe des kynischen Philosophen auf ihn projiziert.  Und so wird Diogenes neben Sokrates zum „Kundschafter“, zum „Sendboten  und Zeugen Gottes unter den Menschen.“[i] Klassischen Ausdruck erhält diese Auffassung vom Kyniker als Boten Gottes in der folgenden berühmten Passage aus den Dissertationes (3,22), die von Margarethe Billerbeck erstmals ins Deutsche übersetzt wurde. Im lockeren Gesprächsstil von Rede und Gegenrede erörtert Epiktet, worin die Bestimmung des wahren Kynikers besteht:

… der wahre Kyniker … muss wissen, dass er als Bote von Zeus zu den Menschen gesandt ist, um ihnen zu zeigen, dass sie über Gut und Böse im Irrtum befangen sind und das Wesen des Guten und Bösen dort suchen, wo es nicht ist, wo es aber ist, es nicht bemerken, und um wie Diogenes, der nach der Schlacht bei Chaironeia zu Philipp geführt wurde, Kundschafter zu sein. Denn der Kyniker ist in der Tat ein Kundschafter dessen, was für die Menschen gut und was für sie schädlich ist (23-24).

Nachdem der kynische Philosoph die „tragische Bühne“ wie ein Pfarrer die Kanzel bestiegen hat, beginnt er mit der Predigt, die zunächst eine Strafpredigt über all jene ist, die ihr Glück „draußen“ suchen:

‘Wehe, ihr Menschen, wohin treibt ihr? Was tut ihr, ihr Elenden? Wie Blinde tappt ihr kreuz und quer. Den rechten Weg habt ihr verlassen und geht auf einem falschen dahin, Wohlergehen und Glück sucht ihr, wo es nicht zu finden ist, und wenn euch einer darauf aufmerksam macht, glaubt ihr ihm nicht. 27. Was sucht ihr es draussen? Im Körper liegt es nicht. Wenn ihr daran zweifelt, dann denkt an Myron und Ofellius. Im Besitz liegt es nicht. Glaubt ihr es nicht, dann haltet euch Kroisos vor Augen, betrachtet die Reichen von heutzutage, welch Jammergeschrei ihr Leben erfüllt. In der Herrschaft liegt es nicht. Sonst müssten jene, die zwei- und dreimal das Konsulat bekleideten, glücklich sein. Sie sind es aber nicht. (26) [ii]

Auf das Gesetz folgt das Evangelium. Der Philosoph hat ausführlich dargetan, dass weder im Körper noch im  Besitz noch in der Herrschaft noch in anderen Dingen, die „außerhalb“ von uns liegen, das Glück gefunden werden kann. Nun gibt er Antwort auf die Frage, wo wir es finden: In uns selbst!

Worin liegt also das Gute, da es ja nicht in diesen Dingen ist? Sag’ es uns, Meister Bote und Kundschafter.’ Da, wo ihr es nicht vermutet und es nicht suchen wollt. Wolltet ihr nämlich, so würdet ihr es in euch selbst finden, würdet nicht draussen herumirren und nach Fremdem streben als ob es euer wäre. Geht in euch, forscht genau aus, welche Begriffe es sind, die ihr habt (38-39)

Alsdann folgt eine Zusammenfassung der kynisch-stoischen Heilslehre, ganz so wie  wir sie oben bereits kennengelernt haben:

Was stellt ihr euch unter dem Guten vor? Wohlergehen, Glück und Freiheit von Hindernissen. Nun denn, versteht ihr darunter nicht selbstverständlich etwas Grosses, etwas Bedeutendes, etwas Unversehrtes? In welchem Bereich muss man also Wohlergehen und Freiheit von jeglicher Hinderung suchen? Im unfreien oder im freien? ‘Im freien.’ Verfügt ihr also bei eurem elenden Leib über etwas Freies oder Unfreies? ‘Das wissen wir nicht.’ Ihr wisst nicht, dass er Sklave von Fieber, Gicht, Augenentzündung, Ruhr, Tyrannei, Feuer, Eisen, kurz, Sklave von allem Stärkeren ist?‘Allerdings, ein Sklave.’  Wie also kann noch irgend etwas am Körper unbehindert sein? Wie aber ist gross oder bedeutend, was von Natur tot ist, Erde, Schlamm. Was folgt daraus? Habt ihr dann nichts, was frei ist? ‘Vielleicht nichts.’  Wer kann euch denn zwingen dem zuzustimmen, was falsch scheint? ‘Keiner.’ Und wer, dem nicht zuzustimmen, was richtig scheint? ‘Keiner.’ Da seht ihr also, dass es etwas in euch gibt, das von Natur frei ist. Begehren oder meiden, wollen oder nichtwollen, etwas tätig vorbereiten oder sich vernehmen – wer von euch kann dies tun, ohne sich zuvor eine Vorstellung von dem gebildet zu haben, was nützlich ist oder was gebührlich? ‘Keiner.’ So habt ihr demnach auch darin etwas, was ungehindert und frei ist. Ihr Elenden, das sollt ihr bearbeiten, darum sollt ihr euch kümmern, da sucht das Glück!’“ (39-44)

Auf die Frage wie denn einer, „der nichts hat, der nackt ist, ohne Haus und Herd, der sich armselig durchschlägt, der keinen Sklaven, keine Heimat hat, ein glückliches Leben führen“ kann, weist Sokrates-Diogenes auf sich und seinen Lebensstil:

‚Siehe, Gott hat euch einen Mann gesandt, der euch in der Tat zeigen soll, dass es möglich ist.  Seht auf mich, ich bin ohne Haus, ohne Vaterstadt, ohne Besitz, ohne Sklave. Ich schlafe auf dem Boden, habe weder Frau noch Kind noch ein Häuschen, sondern nur die Erde, über mir den Himmel und einen einzigen schäbigen Mantel. 48. Was fehlt mir da noch? Bin ich nicht ohne Trauer, ohne Furcht, bin ich nicht frei? Wann hat je einer von euch gesehen, dass ich begehrte, ohne zu erreichen, wann, dass ich dem verfiel, was ich meiden wollte? Wann habe ich je Gott oder einem Menschen Vorwürfe gemacht, wann habe ich jemals einen angeklagt? Hat mich je einer mit grimmiger Miene gesehen? 49. Wie verkehre ich mit denen, die ihr fürchtet und bewundert? Nicht wie mit Sklaven? Wer glaubt nicht, wenn er mich sieht, seinen eigenen König und Herrscher vor sich zu haben ?’ (46-49)

Der Lebensstil des Diogenes gilt als Idealbild des Kynikers. Er schließt für Epiktet den Verzicht auf Haus, Besitz und Sklave (der nach antiker Anschauung ebenfalls als Besitz galt) ein, aber auch auf Frau und Kind. Dies alles gefährdet nach Epiktet die Freiheit und Autarkie des Kynikers.

An anderer Stelle hat der Philosoph sich ausführlich über die Nachteile, die Ehe und Kinder dem Kyniker bringen, ausgelassen. Nicht nur, dass der Kyniker dadurch an Arbeit und Besitz gebunden werde, ebenso schlimm sei auch, dass die Kinder erst noch zu Kynikern erzogen werden müssten und der Vater vorderhand kopfschüttelnd zusehen müsse, wie es sich sein Nachwuchs in weichen Windeln und heißem Badewasser wohlgehen lasse.  Nur der durch bürgerliche Pflichten  oder persönliche Beziehungen nicht in Anspruch genommene Mensch sei wirklich frei, sei wirklich „König“. Epiktet spricht in diesem Zusammenhang vom „Königtum des Kynikers“ und fragt jene, die diese Freiheit um der Gründung einer Familie willen wieder aufgeben: „Wo bleibt da am Ende jener König, der Zeit hat für das Gemeinwohl, dem die Völker anvertraut sind?“ „Schau, auf welche Stufe wir den Kyniker herunterbringen, wie wir ihm sein Königtum rauben — durch Ehe und Kindersegen.“ Am Ende rückt der seiner göttlichen Berufung folgenden Kyniker gar in göttlich Sphären und wird zum „Boten, Kundschafter und Herold der Götter.“[iii]

Anders als bei Diogenes ist der Kynismus bei Epiktet mehr als nur eine Philosophie, er ist religiöse Erlösungslehre. Der Verkünder der Lehre wird durch sie nicht nur zu seinem eigenen König und Herrscher, sondern zum Sendboten Gottes und zum Botschafter eines Evangeliums, ganz so wie die christlichen Apostel, die nach den kynischen Wanderpredigern als Sendboten der frohen Botschaft durch die Lande zogen. Durch die dürftige äußere Hülle der kynischen Wanderprediger bricht gleichsam göttliches Licht hervor. An ihrem Leben und Lebensstil kann sich  der Rest der weltverhafteten Menschheit von der Existenz einer höheren Wahrheit, die nicht von dieser Welt ist, überzeugen.

Die geistige Nähe des Kynismus zum frühen Christentum  ist offenkundig. Besonders zu den Paulusbriefen gibt es auffallende Parallelen. Das betrifft sogar einzelne Formulierungen. Wie der kynische Gesandte verteidigt auch der Verfasser der Paulusbriefe seine apostolische Unabhängigkeit; ganz wie dieser fragte er seine Leser:  „Bin ich nicht frei?“ (wortwörtlich 1 Kor 9:1). Auch er sieht sich als Gottes Gesandten (Gal 1:1). Seine ganze Existenz und die der anderen Apostel ist für ihn ein sichtbares Zeichen der Gegenwart Gottes unter den Menschen:  Mit ihrem Dasein sind sie ein „Schauspiel geworden der Welt und den Engeln und den Menschen“ – und werden hier wie dort dringend zur Nachahmung empfohlen (1 Kor 4:11).

Aber wie es unter den christlichen Predigern manche schwarzen Schafe und falschen Propheten gibt, stecken  auch unter dem kynischen  Philosophenmantel manche Scharlatane, die Wasser predigen und Wein saufen. Zu ihnen gehören diejenigen, und die nach ihrer Predigt alles hinunterschlingen, was man ihnen gibt, oder hamstern oder die Leute, die ihnen begegnen, in zudringlicher Weise beschimpfen.

Aber natürlich ist das Evangelium der kynischen Wanderprediger nicht nur für den engeren Kreis derer bestimmt, die ihnen nachfolgen und ihren Lebensstil nachahmen wollen, sondern für die ganze Menschheit. Auch bei den Kynikern gibt es sozusagen ein Kleines und  ein Großes Fahrzeug. Wer nicht in der Lage ist, sein Leben außerhalb der bürgerlichen Normen zu führen und nicht auf Besitzlosigkeit, Ehe, Kinder etc. verzichten kann und will, um seinen Lebensunterhalt vom Bettel zu fristen, so wie die kynischen Wanderprediger, soll doch wenigstens  „haben, als hätte er nicht“ (habere ut non).

Was es mit diesem kynischen Grundsatz auf sich hat, verdeutlicht Epiktet in seinem Enchiridion (7) anhand des folgenden Beispiels. Wer auf einer Seereise, während das Schiff im Hafen liegt, einen Landbesuch macht und dabei das eine oder andere auf „Muschelchen oder Zwiebelchen“ am Wegrande aufzuheben, sollte seine Gedanken immer auf das vor Anker liegende Schiff gerichtet haben. Er sollte ständig auf den Ruf des Steuermanns zum Aufbruch gefasst sein, um nicht mit Gewalt genommen und „wie die Schafe“ in das Schiff geworfen zu werden. „So ist’s auch im Leben. Wenn dir statt Zwiebelchen und Muschelchen ein Weibchen oder Kindchen geschenkt wird, so wird nichts dagegen einzuwenden sein. Wenn aber der Steuermann ruft, so renne zum Schiff und laß alle jene Dinge zurück, ohne dich auch nur umzuschauen. Bist du aber ein Greis, so entferne dich nicht einmal weit vom Schiff, damit du nicht zurückbleibest, wann jener ruft.“

Wir wollen uns nicht weiter um den aparten Vergleich von „Muschelchen und Zwiebelchen“ mit „Weibchen und Kindchen“ bekümmern. Auch so ist klargeworden, worum es geht. Die buddhistische und altkynische Hauslosigkeit wird bei diesen Predigern des „Haben als hätte man nicht“ – zu denen übrigens auch der Verfasser des 1. Korintherbriefs gehört (1 Kor 7:29) – zu einem Leben auf Distanz oder, wie man auch sagen könnte, zu einem „Leben auf dem Sprung.“

Das ständige Ausgerichtetsein auf das bevorstehende Ende soll verhindern, dass wir uns auf unserer kurzen Landvisite allzu sehr in das eine oder andere „Zwiebelchen oder Muschelchen“ vergucken und zu jammern, wenn der Steuermann ruft und wir wieder fort müssen. Es handelt sich um eine Variation der Memento mori-Übung, die es uns ermöglichen soll, den Abschiedsschmerz über den Verlust des geliebten Gegenstands dadurch gering zu halten oder zu beseitigen, dass wir von vornherein jede innere Beziehung vermeiden.

Der große Vorteil dieser Technik besteht darin, dass sie sich nicht nur von Wanderasketen oder Philosophen in der Tonne ausüben lässt. Da es nicht um äußere, sondern innere Distanz zur Welt geht, kann das Exerzitium von jedermann zu jederzeit an jedem Ort geübt werden.  Das ist praktisch. Problematisch ist allerdings, dass der zur Leid-Losigkeit (apatheia) fest entschlossene Philosoph sich so gar keine Gedanken darüber zu machen scheint, wie es wohl „Muschelchen und Zwiebelchen“ angesichts des eigenartig zerstreuten Landbesuchers ergehen mag, der immer nur halb bei der Sache ist, weil er seine Ohren ständig für den Ruf des Steuermanns gespitzt halten muss. Ob sie sich nicht ein wenig mehr Zugewandtheit wünschten?  Ein wenig mehr Teilnahme? Wer weiß, vielleicht fänden sie es sogar schön, wenn der fremde Landbesucher ihretwegen ein paar dicke Tränen vergösse, bevor er wieder auf sein Schiff zurückkehrt.

Leidenschaft mag Leiden schaffen. Wer jedoch glaubt, die Probleme seines Lebens ließen sich ganz ohne Leidenschaft  lösen, sollte sich nicht wundern, wenn sein Leben bald weder Tiefen noch Höhen aufweist und ihm am Ende ebenso schmeckt wie eine lauwarme Suppe ohne Salz. Zum Ausspeien also.

Wie alle echten Entsagungskünstler befinden sich Epiktet und seine Anhänger mit Welt und Schicksal in einem permanenten Kriegszustand.  Deutlicher als bei anderen ist jedoch, ihr Kampf wesentlich etwas mit dem Kampf um Herrschaft zu tun hat und mit dem Heft, das man sich ungern aus der Hand nehmen lassen möchte. Sagen wir es deutlich: Hinter der von Epiktet zur Schau getragenen demütigen Schicksalsergebenheit steckt etwas, was man bei einem geborenen Sklaven auf den ersten Blick nicht ohne weiteres vermuten sollte: eine durchaus nicht unbedeutende Portion sublimer Herrschsucht.  Zumindest ist Epiktet fest entschlossen, im Kampf gegen das mitunter erbarmungslos zuschlagende Schicksal, auf keinen Fall als Verlierer dazustehen.  Deswegen entwickelt er einen raffinierten Trick: Weil er begriffen hat, dass die Übermacht zu stark ist, dass die Verluste in diesem Krieg absehbar sind und all die schönen Dinge, die „nicht in seiner Gewalt sind“, wie Weib und Kind, Besitz und Gesundheit etc., auf Dauer nicht zu halten sind, hat er sich dazu entschlossen sie freiwillig preiszugeben und dem Feind kampflos zu überlassen. Entschieden ist damit allerdings noch nichts. Denn nun erhebt sich der Stoiker aus den Trümmern seines Daseins, reckt sich empor und erklärt triumphierend seinen Sieg: All das, was ihm das Schicksal soeben genommen hat, war nur eine Bagatelle, kein wirkliches Gut, sondern ein bedeutungsloses Nichts, das mit ihm selber, seiner Freiheit und seinem Glück nicht das Geringste zu schaffen hat.

Nachdem das derart belehrte Schicksal erkennt, dass der Philosoph offenbar im Drachenblut gebadet hat und jedenfalls mit einem Panzer der Unverletzlichkeit ausgestattet ist, trollt es sich unverrichteter Dinge davon. – So jedenfalls mochte es der von seinem Sieg und seiner Unverletzlichkeit überzeugte Philosoph gesehen und geglaubt haben.

Um welchen Preis diese Unversehrtheit erkauft wird, wurde schon gesagt. Um den eines alles in allem recht freudlosen, langweiligen Lebens, in  dem es weder nennenswerte Höhe – noch beklagenswerte Tiefpunkte gibt. Mitunter entbehrt das nicht der Komik. Dort z.B. wo der stoische Philosoph uns zumutet, auch in im Schmerz eine bloß äußerliche Vorstellung und insofern etwas Nebensächliches, geradezu Nicht-Existentes zu sehen. Das will, wie schon der Christian Fürchtegott Gellert (1715 -1769), ein deutscher Dichter der Aufklärung,  bemerkte, gekonnt sein:

Der Schmerz ist in der That kein Schmerz

Und das Vergnügen kein Vergnügen.

Sobald du dieses glaubst: so nimmt kein Glück dich ein

„Allein“, sprichst du, „wenn ich das Gegenteil empfinde,

Wie kann ich dieser Meinung sein?“

Das weiß ich selber nicht; indessen klingt’s doch fein,

Trotz der Natur sich stets gelassen sein. [iv]

Auch das stoische Prinzip des „Habens, als hätte man nicht“ ist nicht ganz frei von Problemen. Etwas haben und genießen und zugleich von der Wertlosigkeit dessen überzeugt zu sein, was man hat und genießt, um es gegebenenfalls jederzeit wieder aufzugeben, ist eine heikle Kunst und gelingt wohl nur den wenigsten. Sie kann leicht in Heuchelei oder auch Zynismus umschlagen. Die treffendste Kritik daran hat Schopenhauer formuliert. Er spricht von den stoischen Philosophen, die „an einer luxuriösen Römischen Tafel sitzend, kein Gericht ungekostet ließen, …  dabei aber dem lieben Gott keinen Dank dafür wußten, vielmehr fastidiöse Gesichter schnitten und nur immer brav versicherten, sie machten sich den Teufel etwas aus der ganzen Fresserei. Dies war das Auskunftsmittel  der Stoiker: sie waren demnach bloße Maulhelden, und zu den Kynikern verhalten sie sich ungefähr, wie wohlgemästete Benediktiner und Augustiner zu Franziskanern und Kapuzinern. Je mehr sie nun die Praxis vernachlässigten, desto feiner spitzten sie die Theorie zu.“[v]

 

 

[i] Billerbeck 1978, S. 8

[ii] Billerbeck 1978, S. 19f.

[iii] Lang 2010, S. 82

[iv] Lessing et al. 1997, S. 44791

[v] Schopenhauer 1988, S. 2, 180f.

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