Das Göttliche Kind

Predigt, Hl. Abend, Melanchthon-Kirche, Berlin Spandau, am 24. 12. 2006

Liebe Gemeinde,

„Es begab sich aber zu der Zeit…“

Da ist sie wieder – die gute alte Weihnachtsgeschichte. Wenn Geschichten einen Duft hätten, dann hätte diese den von Weihnachtsstube, Tannennadeln, Pfefferkuchen und Zimtsternen. Und wenn Geschichten klingen könnten, klänge diese wie Weihnachtsglocken und Engelsharfe.

Die Älteren von uns haben diese Worte oft gehört, von Kindheit an, und doch ist es damit so, wie bei vielen Dingen, die uns vertraut erscheinen. Wir meinen sie zu kennen, aber wissen wir wirklich, worum es geht?

Die Weihnachtsgeschichte spricht von einem jungen Paar, von Joseph und seiner schwangeren Frau Maria, und von einem Kind in der Krippe. Ochs und Esel müssen wir uns, laut Matthäus, auch noch hinzudenken, schließlich Hirten, die drei „Weisen aus dem Morgenland“ und sogar Engel. Das sieht auf den ersten Blick aus wie ein Idyll, ist aber keins. Darauf deutet schon das Wort „Krippe“ hin. Welche Mutter würde ihr Kind nicht lieber in eine Wiege legen, statt in eine Krippe bringen?

Das Kind ist bedroht von Anfang an. Nicht nur von Obdachlosigkeit, Armut und Kälte. Die schlimmste Bedrohung geht wie so oft von den Menschen aus, von keinem Geringeren als König Herodes. Im Matthäusevangelium wird unsere Weihnachtsgeschichte eng verknüpft mit der Erzählung vom Kindermord in Bethlehem und der Flucht nach Ägypten. Die Einzelheiten dieser etwas märchenhaften Geschichte, die Frage nach dem Wo und Wann können wir getrost überspringen. Die Evangelien sprechen in Sinnbildern. Herodes der Große ist das Sinnbild des skrupellosen Machtpolitikers. Der Gedanke, daß das Szepter ihnen entgleiten könnte, daß sie die Macht aus ihren Händen verlieren könnten, ist allen Machtmenschen unerträglich.

Heute gibt es keinen Tyrannen Herodes mehr, der Kinder töten läßt. Aber Kinder, die nicht in das Kalkül der Erwachsenen hineinpassen, die gibt’s. Und was geschieht, wenn Kinder die Berufs- und Karrierepläne der Erwachsenen durchkreuzen? Warum ist die Zahl der Kindesmißhandlungen, warum die Fälle von Kindesverwahrlosung, von Abtreibungen bei uns so erschreckend hoch?

Gibt es nicht auch heute noch unter uns so etwas wie eine „Herodes-Mentalität“, der alles recht und billig ist, wenn es nur dazu dient, das eigene Ego zu befriedigen, das eigene Fortkommen, das eigene Ansehen und ein gutes wirtschaftliches Auskommen?

Wir haben gerade in den letzten Wochen viel über die Verwahrlosung von Kindern hören müssen, auch hier in unserem Gemeindebezirk in Berlin-Spandau. Wir sind betroffen, und viele fragen: warum?

Zur Erklärung werden wir von den Medien auf die wirtschaftliche und finanzielle Situation vieler Familien hingewiesen. Von Kinderarmut ist die Rede, von Eltern, die von Hartz IV leben müssen. Aber was ist damit erklärt? Die Verantwortung nimmt uns niemand ab. Armut hat es immer gegeben, die wirtschaftliche Situation der Menschen nach dem Krieg war, verglichen mit unserer heutigen, katastrophal.

Der Grund ist ein anderer: Unsere Einstellung hat sich verändert. Der Wohlstand ist uns nicht bekommen, Menschen sind härter geworden, gieriger, rücksichtsloser, materialistischer. „Genuß sofort“ heißt die brutale Devise. Getrieben von der Lebensgier, angefeuert von einer Werbung die ihnen einredet, daß das höchste Glück im Konsum liegt, leben viele Menschen in der ständigen Sorge, das Eigentliche, oder das, was sie dafür halten, zu verpassen. So als ginge es darum, aus diesem Leben das Äußerste für sich an Genuß, an „Lebensqualität“ herauszupressen.

Das Ego ist unser Gott geworden – und die Kinder sind die Leidtragenden.

Doch zurück zur Krippe und dem göttlichen Kind. Ich will einmal fragen: Ist nicht im Grunde jedes Kind ein solches „göttliches Kind“? Spüren wir nicht durch jedes Kind hindurch den Hauch des Himmels? Ich erinnere an das Jesuswort von den Kindern, denen das Gottesreich gehört. Laut Dante sind es drei Dinge, die uns aus dem Paradies verblieben sind: Sterne, Blumen, Kinder.

Das was uns an Kindern berührt, ist die Faszination des Ursprungs. Ihre Begeisterungsfähigkeit fasziniert uns, ihre Phantasie, ihre Fähigkeit über Dinge zu staunen, ihre große Empfänglichkeit für Eindrücke, für die wir oft schon ganz abgestumpft sind. Weiter fasziniert uns ihre Spontaneität. Wir, die wir mit unseren Gedanken häufig nur noch in der Zukunft leben, bewundern ihre Fähigkeit, sich ganz der Gegenwart hinzugeben, und wir beneiden sie um ihre unverstellte Ehrlichkeit. Kinder denken, was sie sagen, und sagen, was sie denken.

Das Kind hält uns den Spiegel unseres Lebens vor Augen. Wir erinnern uns an unsere eigene Kindheit, an das, was wir selber einmal waren – und inzwischen nicht mehr sind. Wir haben das Gefühl, als hätte unser Leben damals noch größere Kraft und Intensität besessen. So als seien die Farben leuchtender gewesen und die Welt offener und freier.

Damals waren wir noch nicht eingezwängt zwischen Terminen. Da ging es noch nicht ums Geldverdienen und um Karriere, sondern da war das Spiel die Hauptsache. In unseren Spielen waren wir nicht festgelegt auf eine bestimmte Rolle, die Rollen wechselten noch, wir konnten täglich neue erproben. Als Kinder konnten wir alle Möglichkeiten des Lebens kennenlernen.

Und nach einem erfüllten Tag konnten wir uns am Abend vertrauensvoll in den Arm der Mutter oder des Vaters und manchmal auch in den der Großmutter oder des Großvaters  fallen lassen.

Manches von dem, was ich eben über Kind und Kindheit gesagt habe, mag ein wenig idealisiert klingen. Die Zeit verklärt manches, und in der Erinnerung trägt vieles einen Goldglanz.

Und doch: auch wenn die Erinnerung uns hier und da täuschen sollte, leuchtet beim Gedanken an unsere Kindheit – ich rede von der Kindheit im allgemeinen – eine einzigartige Vollkommenheit auf. Die Sehnsucht danach, nach dem verlorenen Paradies begleitet uns unser Leben hindurch, auch und gerade an solchen Tagen wie dem heutigen.

Im Laufe unseres Lebens ist so vieles verlorengegangen, und wir spüren diesen Verlust, je älter wir werden. In manchen Momenten fragen wir uns, wo denn das Kind, das wir damals waren, heute geblieben ist?

Aber wir dürfen ganz beruhigt sein. Das beste Zeichen dafür, daß dieses Kind immer noch da ist und immer noch in uns lebt – ist ja: daß wir nach ihm fragen.  Unsere Sehnsucht ist der beste Anzeiger dafür, daß es dieses Kind immer noch gibt, daß der Wunsch nach Ganzheit, nach Erneuerung in uns noch nicht abgestorben ist.

Gerade die Betrachtung des Kindes in der Krippe am Heiligen Abend kann uns diesem Ursprung wieder näher bringen. Denn es handelt sich eben um irgendein Kind, sondern um das göttliche Kind. Die Geburt dieses Kindes ist ein Symbol dafür, daß in unserem Innern etwas Neues, etwas Göttliches heranwachsen will.

Das göttliche Kind in der Krippe, es ist ein Bild für unser wahres Selbst. Es ist das reine, unverfälschte Bild unserer göttlichen Herkunft. Dieses göttliche Selbst muß in uns immer wieder neu geboren werden:

Wird Christus tausendmahl zu Bethlehem gebohrn /
Und nicht in dir; du bleibst noch Ewiglich verlohrn.

so heißt es beim großen christlichen  Dichter und Mystiker Angelus Silesius.

Bei der Beschäftigung mit außerbiblischer frühchristlicher Literatur ist mir aufgefallen, daß Christus den Aposteln an ganz vielen Stellen in der Gestalt eines Kindes erscheint. Und auch vom mittelalterlichen Theologen Meister Eckhart gibt es eine Legende, wonach diesem Gott in Gestalt eines Kindes, in Gestalt eines Knaben, begegnet sein soll.

Wo Gott den Menschen erscheint, so erfahren wir, da nimmt er gerne die Gestalt und Züge eines Kindes an. Und das Wunderbare ist, daß alle, die mit diesem Kind in Berührung gekommen sind, verändert und verwandelt wurden.

Liebe Gemeinde,

Weihnachten ist nicht nur Tannenbaum und Geschenke und Gänsebraten, sondern mehr. Es ist auch ein Fest der Besinnlichkeit und des Nachdenkens. Ein Fest, um Kräfte zu sammeln für das Neue, das vor uns liegt. Neuen Mut zu schöpfen, um Herausforderungen zu bewältigen und angestrebte Ziele zu verwirklichen, das Jahr in Ruhe ausklingen lassen, sich auf Kommendes einzustimmen.

Aber die Hauptsache von Weihnachten ist und bleibt das Kind in der Krippe. Es geht nicht darum, dieses Bild sentimental zu verklären oder gar zu verkitschen. Es geht darum, die Botschaft zu hören, auf das, was uns Gott mit diesem Sinnbild sagen will. Daß das göttliche Kind auch in unser Leben gleichsam „hineingeboren“ werden will, damit in jedem von etwas von der überströmenden Liebe und Güte Gottes Realität werden kann. Durch jeden von uns soll ein Lichtstrahl der Liebe Gottes in diese Welt hineinscheinen. Zum Trost für die, die unter schwerem Schicksal leiden. Zur Beschämung und Umkehr für die, die etwas Unrechtes getan haben. Zu Ermutigung für die, die mehr aus ihrem Leben machen wollen und die nicht zufrieden sind, mit dem wie es ist.

Die Botschaft vom Mensch gewordenen Gott bleibt darum auch über die Feiertage hinaus aktuell. Auch dann wenn Weihnachten wieder vorbei ist, wenn der Gänsebraten gegessen ist und die Kerzen erloschen sind und der Alltag uns wiederhat. Amen.