Schlage doch …

Lehrer Krüger hatte alle sechs Kinder unseres Dorfes, die im nächsten Jahr eingeschult werden sollten, zu einer gemeinsamen Musikstunde eingeladen. Bei gemeinsamem Gesang sollten wir Schule und Lehrer kennenzulernen. Heute würde man wohl von „Schnupperstunde“ sprechen, aber damals, in den fünfziger Jahren, gab es das Wort noch nicht. Und Herrn Krüger, der ein sehr ernster Mann war und eine dunkle Hornbrille trug, hätte das Wort ganz sicher nicht gefallen – wenn er es gekannt hätte.

Im Eingangsflur der kleinen Dorfschule befand sich ein alter Nussbaumschrank. Darauf standen eine Tafel mit aufgespießten Schmetterlingen und einige Tierpräparate. Zum Beispiel ein ausgestopfter Uhu, ein ebensolcher Marder und ein paar Nasspräparate, darunter eine Kreuzotter, eine Blindschleiche  und ein Laubfrosch, die von Herrn Krüger höchstpersönlich in eine Formaldehydlösung eingelegt worden waren.

Mit seiner dicken Hornbrille sah Herr Krüger selber ein wenig aus wie der Uhu. An den Sonntagen haben wir ihn oft mit  Wanderstock und in Knickerbocker durch die Felder streifen gesehen, immer auf der Jagd nach Schmetterlingen und Amphibien, die er später präparierte. Er war Leiter des örtlichen Heimatvereins. Heimatkundeunterricht war seine Leidenschaft. Am Frühlingsanfang zog die ganze Schule zum Dorfplatz, um dort den „Winterriesen“, der von den älteren Schülern aus Stroh angefertigt worden war, zu verbrennen. Herr Krüger hielt dann immer eine kleine Ansprache, in der viel von den den alten Sagen und Liedern der Heimat die Rede war, die es zu bewahrten gelte usw.

Selbstverständlich sangen wir mit  Herrn Krüger nur Volks-, Wander- und Heimatlieder. Ein Lied hieß „Köhlerliesel“. Darüber freute ich mich besonders, denn das kannte ich schon von unserer Nachbarstochter Elke. Ihre Eltern waren die einzigen im Dorf, die einen Plattenspieler hatten. Sie wohnten in einem alten Bauernhaus. Wenn sie auf dem Feld waren, schlichen Elke und ich uns durch die Diele an der tauben Oma vorbei in die „gute Stube“, wo die Plattentruhe mit dem Häkeldeckchen darauf stand. Die Plattensammlung war nur  klein, wir hörten immer nur eine Platte, die mit „Mein Vater war ein Wandersmann“ auf der Vorder-  und  „Köhlerliesel“ auf der Rückseite.

Wie gesagt, freute ich mich darüber, dass ich das Lied, das Herr Krüger mit uns singen wollte, schon kannte. Ich kann nicht ausschließen,  dass ich etwas „übermotiviert“ war und vielleicht ein wenig zu laut sang. „Liesel, Liesel, Köhlerliesel, Du bist so jung, hei, du bist so schön!“ Unglücklicherweise hatte ich den Blick von Herrn Krüger, der warnend durch seine Hornbrille  schaute, nicht richtig verstanden. Als ich ich lauthals weitersang, holte er weit mit seinem Arm aus und gab mir eine schallende Ohrfeige. Statt „Köhlerliesel“ und „Juvie fallera lala, juvie fallera lala“  hörte ich ein paar Sekunden lang nur ein lautes Summen.

Rätselhaft erscheint mir aus heutiger Sicht, dass alle so weitersangen, als sei nichts geschehen. Aber die Stimmung war jetzt gedrückter, und alle waren sehr darum bemüht, nicht zu laut und ausgelassen zu singen. Man konnte ja nicht wissen…

Meine Eltern waren entsetzt, als ich von meinem ersten „Musikunterricht“ nach Hause kam. Die Backe sei angeschwollen gewesen, sagten sie und habe geglüht wie im Fieber. Sie gingen zu Herrn Krüger auf und baten ihn, sich zu erklären. Aber der konnte sich nur an einen harmlosen Klaps erinnern. Und damit war die Sache erledigt, damals in den fünziger Jahren.

Eigentlich müsste ich ein Trauma haben. Ein schlimmes Musik- und Schultrauma.  Doch damals habe noch nicht einmal geweint. Ich dachte nur, Ohrfeigen müssten wohl irgendwie zur Schule und zum Erwachsenwerden dazugehören. Die Ohrfeige von Herr Krüger konnte mir weder Musik noch Schule und am wenigsten die Freude am Leben verleiden.

Vielleicht haben sich die Folgen auch erst später bemerkbar gemacht. Denn eines muss ich gestehen: Musik mit viel Schlagzeug und Schlägen mag ich nicht. Beatmusik zum Beispiel. Auch Techno ist mir ein Gräuel. Aber ich mag alles Kantable, besonders gern Kantaten. Manchmal, wenn ich mich vergewissert habe, dass ich ganz allein bin, singe ich sogar laut mit. Dabei brauchte Herrn Krüger eigentlich nicht zu fürchten, denn der ruht schon seit langem in seiner Heimaterde.  Nur neulichst erschrak ich kurz, beim Hören der Kantate Bachwerkverzeichnis 53,  als es hieß: „Schlage doch, gewünschte Stunde…“