Sexagesimae – 12. Februar 2011 – 2 Korr (11, 18.23b-30); 12, 1-10
Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig
Liebe Gemeinde,
wie oft höre ich: Wenn es doch wenigstens in der Kirche keinen Streit gäbe. Wenn es doch wenigstens an den christlichen Gemeinden friedlich zuginge. Wenn doch auch hier eine solche Eintracht herrschte wie einst in der christlichen Urgemeinde.
Menschen, die so etwas sagen, staunen nicht schlecht, wenn ich ihnen antworte: Ihr kennt die Bibel nicht. Vielleicht gab es einmal eine Zeit, in der man in der christlichen Gemeinde „ein Herz und eine Seele“ war. Der Verfasser der Apostelgeschichte deutet so etwas an (Apg 4:32). Aber in seiner Darstellung liegt gewiss auch eine Menge Nostalgie und nachträglicher Idealisierung. Wir neigen alle dazu, die „guten alten Zeiten“ zu verklären. Wie wir aus eigener Erfahrung wissen, waren sie selten so gut, wie es uns im Rückblick scheinen will.
Wenn wir ganz genau hinblicken, stellen wir fest: Auch damals schon wurde mit harten Bandagen gekämpft, wurde geeifert, gestritten und gelitten. Auch damals schon war der christliche Glaube immer wieder Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen und unschöner Streitereien. Da gab es Biblizisten, die für alles eine Begründung in der Schrift, dem Alten Testament, haben wollten. Da gab es Freigeister und Charismatiker, die davon wenig hielten und denen allein der Heilige Geist wichtig war. Da gab es Christen, für die vor allem die tätige Nächstenliebe zählte, d.h. die „Werke“ oder das das „Soziale“, wie wir heute sagen würden. Und da gab es solche, denen lag in erster Linie an ihrer frommen „Innerlichkeit“, d.h. Gebet, Meditation und Versenkung.
Nicht viel anders als bei uns – oder?
In den Paulusbriefen haben wir dieses bunte Durcheinander von aufeinanderprallenden Meinungen und Gruppen ganz deutlich vor Augen. In der Auseinandersetzung mit ihnen bedient der Verfasser alle Register der Polemik und Apologetik. Ganz besonders in dem Abschnitt, aus dem der Predigttext des heutigen Sonntags stammt. Wir haben es also keineswegs mit einem beschaulichen Erbauungstext zu tun.
Paulus wendet sich darin gegen Missionare, die in seinen Gemeinden für Unruhe sorgten. Man weiß nicht ganz genau, was das für Leute waren. Manche Exegeten nehmen an, es waren Gnostiker, wir würden heute dazu sagen: Esoteriker. Andere meinen, es seien Christen, die eine gesetzliche Richtung vertraten, also eine Art Siebentagesadventisten, allerdings mit einem starken charismatischen Einschlag.
Wie auch immer, wir haben es in jedem Fall mit Pneumatikern zu tun, die sich ihrer geistlichen Erfahrungen rühmten. Menschen, die sozusagen nicht nur im Glauben, sondern schon im Schauen lebten.
Sind spirituelle Erfahrungen etwas Verwerfliches?
Keineswegs. Es war ein großer Fehler der Kirche, zumal der protestantischen, die Erfahrungsdimension so lange vernachlässigt und das Gewicht einseitig auf die Lehre und den Glauben gelegt zu haben. Ganz ohne solche Erfahrungen, ganz ohne Innendimension bleibt der Glaube tot.
Deswegen dürfen wir uns auch nicht wundern, wenn heute Zen- und Mantra-Meditation überall großen Zulauf haben oder wenn Yoga-Schulen aus dem Boden sprießen wie Pilze. Hier wird man nicht mit Katechismussätzen abgespeist, hier werden Erfahrungen, spirituelle Erfahrungen, angeboten. Danach suchen viele Menschen. Sie möchten nicht nur an Gott glauben, sie wollen ihn spüren, fühlen und erleben. Wenn ihnen die Kirche diese Erfahrung vorenthält, dann suchen sie eben anderswo danach, zum Beispiel in den östlichen Religionen,
Was viele Menschen jedoch nicht wissen: dass es nicht nur dort, sondern auch im Christentum eine lange Tradition der spirituellen Erfahrung gibt, die von Augustin über Meister Eckehart, Jacob Böhme und Gerhard Tersteegen, ja bis hin zu dem vor einigen Jahren ermordete Gründer von Taize, Frère Roger, reicht. Um nur einige wenige Namen zu nennen.
Wie gesagt: Paulus hat dagegen nichts. Wie sollte er? Gehört er doch selber zu den größten spirituellen Impulsgebern und „Meistern“ der christlichen Frömmigkeitsgeschichte. Er nimmt den Ball, den man ihm zuspielt, auf und spricht selber – das erste und einzige Mal – von einer eigenen religiösen Erfahrung. Stockend und nach Worten suchend für Dinge, die durch Worte nicht ausgedrückt werden können und für die jedes Wort zu klein ist. Es schildert eine Art geistiger Himmelsreise. Länger als ein Jahrzehnt ist das her, als er in den „dritten Himmel“ entrückt wurde und unaussprechliche Worte hörte.
Das erinnert an das berühmte Gespräch des Kirchenvaters Augustin mit seiner Mutter Monica, kurz vor deren Tode, in der römischen Hafenstadt Ostia. Ein Gespräch über göttliche Dinge. So tief waren beide darin versunken, dass sie auf der Stufenleiter des Geschöpflichen höher und höher stiegen und schließlich sogar in göttliche Gefilde eintauchten. Auf dem Gipfel der Ekstase berührten sie „mit einem leisen Schlag ihres Herzens“, wie es heißt, die Weisheit, Gottes Weisheit, die war und ist und sein wird und in der es nur ein ewiges Sein gibt.
Paulus ist in seiner Darstellung allerdings bei weitem nicht so ausführlich wie Augustin in seinen „Bekenntnissen“; er deutet nur an und geht sogar soweit, von sich in der dritten Person zu erzählen
Warum das?
Nun, er will eines auf jeden Fall vermeiden: Er möchte unter keinen Umständen den Eindruck erwecken, mit seinen Erlebnisse zu prahlen, so wie dies seine Gegner tun. Das ist ja tatsächlich die große Gefahr, dass Esoterik und Mystik am Ende vom Menschen für eigenen Zwecke missbraucht werden. Von Menschen, die sich ihrer Erfahrungen rühmen und sich deswegen anderen, die diese Erfahrungen nicht gemacht haben, überlegen glauben.
Mystik, Esoterik und Gnosis können zu elitärer, geistlicher Arroganz führen. Am Ende schreibt man sich selber zu, wofür man eigentlich Gott danken müsste. Und damit möchte Paulus nichts zu tun haben.
Geistliche Erfahrungen als solche werden von ihm also nicht verworfen. Mystik wird nicht als Teufelszeug gebrandmarkt. Weit entfernt! Aber jede Form von geistlicher Erfahrung, die zu Selbstüberhebung und geistlicher Arroganz führt, wird abgelehnt, weil geistlicher Hochmut nicht zum Mitmenschen hin, sondern von ihm weg führt.
Wenn Paulus sich wirklich rühmen wollte – dann seiner Schwachheiten. Damit hat er den Spieß umgedreht und den Gegnern gezeigt, was echte christliche Spiritualität ist. Unfreiwillig, gezwungen durch seine Gegner, hat er für einen Moment das Spiel mitgemacht. Aber nur zum Schein. Denn im Wesen ist diejenige geistliche Erfahrung, der er sich „rühmt“, von ganz anderer Art als die seiner Gegner. Sie ist nicht geprägt von Hochmut und Prahlerei, sondern von Demut.
Wir kennen den Apostel als einen Mann von großer Tatkraft und Energie, als großen Missionar, der die halbe Mittelmeerwelt bereiste. Und doch, der Predigttext macht es deutlich: Auch Paulus war keineswegs diese große Kraftnatur. Auch Paulus war immer wieder der quälenden Erfahrung eigener Ohnmacht ausgesetzt.
Im Predigttext spricht er vom „Stachel im Fleisch“. Wahrscheinlich handelt es sich um eine chronische Krankheit, die den Apostel quälte, wir wissen es nicht. Gerade diese Ohnmachtserfahrung hat ihm aber den Geschenkcharakter seiner geistlichen Gaben bewusst gemacht und ihm – anders als seinen Gegnern – gezeigt, woher letztlich diejenigen Kräfte kamen, denen er jenen spirituellen Reichtum zu verdanken hatte, von dem seine Briefe überzufließen scheinen: nicht aus ihm selber – sondern aus Gott, der in dem Schwachen mächtig ist.
So wie der elektrische Strom erst da wirksam ist, wo eine Verbindung mit dem Kraftzentrum, der Batterie, besteht, so schöpfte Paulus – und man könnte hinzufügen: so schöpfen wir – unsere Kraft nicht aus uns selber, sondern wo wir mit der Kraftquelle Gott, mit Gott selber, verbunden sind. Gott, der nicht ferne ist von uns und in dem wir leben, weben und sind (Apg 17:27f.).
Keiner von uns lebt aus sich selber, wir alle leben aus ihm. Echte geistliche Erfahrung ist kein Besitz ist, auf den wir stolz, sondern eine Gnade, für die wir dankbar sein dürfen. Lob und Dank gilt allein dem Gott, der zu Paulus zu sprach: Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.
Amen.
Liedvorschläge:
Zum Eingang: EG 165,1.3-4.7-8 Gott ist gegenwärtig
Vor der Predigt: EG 161 Liebster Jesu, wir sind hier
Nach der Predigt: EG 355 Mir ist Erbarmung widerfahren
Zum Schluss: EG 384 Lasset uns mit Jesus ziehen