Das Gleichnis von der Perle

Predigt – Melanchthon-Gemeinde, Berlin-Spandau, 2007

Das Reich der Himmel gleicht einem im Acker verborgenen Schatz, den ein Mensch fand und verbarg; und vor Freude darüber geht er hin und verkauft alles, was er hat, und kauft jenen Acker. Wiederum gleicht das Reich der Himmel einem Kaufmann, der schöne Perlen sucht; als er aber eine sehr kostbare Perle gefunden hatte, ging er hin und verkaufte alles, was er hatte, und kaufte sie (Mt 14).

Für eine einzige Perle alles verkaufen. Wer macht denn so etwas? Das kann doch nur ein Verrückter sein – oder?

Tatsächlich gibt es Menschen, die von einer regelrechten Sammelwut ergriffen sind. Menschen also, die so fasziniert sind von einem Gegenstand, daß sie alles daransetzen, um in dessen Besitz zu gelangen. Es gibt besessene Kunstsammmler, die  –  oft zum Leidwesen ihrer Familie  – Unsummen von Geld in ihre Leidenschaft investieren und auch nicht davor zurückschrecken, sich zu verschulden.

Tatsächlich ist eine Perle ja auch etwas Wunderschönes.  Zahllose Märchen, Mythen, Legenden ranken sich darum. Perlen sind Kostbarkeiten von hohem materiellen und ästhetischen Wert.

In der Literatur begegnet uns die Perle häufig als Sinnbild. Um ihrer Kugelform willen gilt sie als Symbol der Vollkommenheit. Um ihrer Schönheit willen gilt sie als Symbol der Liebe. Und ihre geheimnisvolle Farbe, ihre Härte, ihr hoher Wert können als Hinweise auf das ewige Leben verstanden werden.

Aber nicht nur unter Sammlern gibt es Verrückte, die für einen einzigen Gegenstand Geld und Lebenszeit opfern. Ich kenne noch eine andere Gruppe von Menschen, die so etwas macht:  die Liebenden. „Du bist mein Ein und Alles, ohne dich kann ich nicht mehr leben“, spricht der Liebende zur Geliebten. Und damit ist es ihm vollkommen ernst.

Aber dann gibt es noch jemand, der so spricht: der Gottesfreund:

Wenn ich dich nur habe, so frage ich nichts nach Himmel und Erde,

ruft der Psalmist (Ps 37, 25). Auch er ein Liebender. Einer der Gott in seinem Leben entdeckt hat und jetzt weiß: Alles andere ist letztlich nur ein matter Abglanz der einzigartigen Herrlichkeit und Schönheit Gottes.

Und was sagt Paul Gerhard, der große protestantische Liederdichter dazu? Auch er schreibt ein Liebesgedicht:

Gott ist das Größte,
das Schönste und Beste,
Gott ist das Süßte
und Allergewißte,
aus allen Schätzen der edelste Hort.

Es gibt einen alten christlichen Text, den man das Perlenlied nennt. Er stammt aus den Thomasakten, die ihren Namen nach dem Apostel Thomas, dem ersten Indien-Missionar erhalten haben.

Das Lied beginnt so:

Als ich ein kleines Kind war,  wohnte ich am Königshof meines Vaters.

Der Erzähler des Textes stellt sich als Prinzensohn vor. Er erfreute sich lange des Reichtums und der Pracht des Königshofes seines Vaters. Doch dann kommt der Tag, an dem er von den Eltern einen Auftrag erhält. Er soll den Hof, die Heimat verlassen. Dazu soll er sein strahlendes Prinzengewand ausziehen und sich auf den Weg nach Ägypten machen, um dort eine wertvolle Perle, die von einem Drachen bewacht wird, in Besitz zu nehmen.

Der Prinz macht sich auf die Reise und kommt nach Ägypten.  Die Ägypter aber haben bemerkt, daß es sich bei dem Prinzen um einen Fremden handelt. Und sie geben ihm „mit trügerischer List“, wie es heißt, von ihrer Nahrung zu essen. Die Wirkung ist die, daß der Königssohn durch die Schwere der Speisen in einen tiefen Schaf fällt und alles alles vergißt: Seine Herkunft als Königssohn, seinen Auftrag, die Perle zu holen, seine Eltern, seine Heimat.

Erst die Ankunft eines Briefes, den der besorgte Vater seinem Sohn nachgesandt hat, erweckt ihn aus dem Schlaf des Vergessens.

Auf, erhebe dich von deinem Schlaf,

so beginnt dieser Brief – ganz ähnlich wie der Choral in der Markuspassion „Wach auf, o Mensch, vom Sündenschlaf“.

Höre auf die Worte unseres Briefes.
Erinnere dich, daß du ein Königssohn bist.
Siehe die Versklavung, siehe wem du dienst!
Entsinne dich der Perle, derentwegen du nach Ägypten geschickt wurdest!
Erinnere dich deines strahlenden Gewandes
Du sollst Erbe in unserem Reiche sein!

Tatsächlich bewirkt der Brief, daß der Königssohn nun aus seinem Schlaf erwacht und sich seiner Gefangenschaft bewußt wird; er erinnert sich wieder seiner Eltern, seiner Heimat, seiner Bestimmung. Und so macht er sich auf. Es gelingt ihm, dem Drachen die Perle zu entwenden, und er kehrt zurück in die Heimat. Das schmutzige Gewand, das er in der Fremde  trug,  läßt er zurück. Am Ende wird er von seinen Eltern mit demselben strahlenden Gewand, das er einst zurücklassen mußte, empfangen und als König eingesetzt.

Beim Hören der Geschichte merken wir gleich,  daß sie mehr ist als ein hübsches Kindermärchen. Es handelt sich um eine Symbolgeschichte. Jede Gestalt dieser Geschichte, jeder einzelne Zug hat eine Bedeutung, die über den unmittelbaren Erzählzusammenhang hinausgreift.

Der Königssohn, der Prinz, steht für nichts anderes als die menschliche Seele.  Sie ist das Königskind, das seit der Geburt in der Fremde lebt, mit ihrem königlichen Adel und ihrer himmlischen Herkunft. Diese Seele hat einen Auftrag. Er lautet: die Perle in Besitz zu nehmen und sie dem Vater zu bringen.

Doch was ist diese Perle? Sie steht für zweierlei: Zum einen  für das höchste Gut in unserem Leben, für den unbedingten Willen, es zu suchen, zu finden, nicht vom Wege abzukommen, sich nicht zu verirren, dem Auftrag treu zu bleiben – bis wir es zurück in die Hand des Vater legen können. Zum andern für unsere ursprüngliche Gottebenbildlichkeit, für die Gotteskindschaft.  Dass wir diese Gottesebenbildlichkeit, die rein und klar und voller Schönheit ist, immer wieder vergessen und aus den Augen verlieren, nicht bewahren und erhalten, sondern beschmutzen und in den Sumpf ziehen, das ist die menschliche Sünde.

Und was bedeutet Ägypten? Ägypten – das ist die materielle Welt. Wir erinnern uns  an die „Fleischtöpfe Ägyptens“, nach denen sich viele Israeliten nach dem Auszug sehnten. Die Ägypter stehen symbolisch für all jene die Menschen, die der Welt komplett verfallen und in der Diesseitigkeit gefangen sind. Über das Meer nach Ägypten gehen, um die Perle zu holen, bedeutet, in der materiellen Welt zu leben.

Auch das Meer ist ein uraltes Symbol für die Welt. Es begegnet schon auf den frühen christlichen Katakombenmalereien. Dort wird die Mission oft als ein Fischfang dargestellt. Die Fischer, das sind die Jünger, das ist die Predigt. Die Fische, die im Meer schwimmen, das sind die Christen, die durch das Wort des Evangeliums aus dem Meer der Welt herausgezogen werden.

Der Prinz fällt in einen tiefen Schlaf.

Die Anpassung an diese Welt führt schließlich dazu, daß wir das Ziel unseres Lebens  aus den Augen verlieren und unseren Auftrag vergessen. Der Schlaf symbolisiert den Zustand der Unbewußtheit, in dem sich die meisten Menschen befinden, während sie in der materiellen Welt leben – auch wenn sie meinen, hellwach zu sein. Sie täuschen sich. Sie leben nicht wirklich, sondern sie leben so, wie die anderen es von ihnen erwarten. Sie passen sich der Welt und ihren Zwängen an.  Den Nachbarn oder dem Gerede, dem, was alle tun, dem, was man so macht. Es heißt nicht mehr „ich will“, sondern „man will“. Wir unterwerfen uns der Herrschaft des Konsums, des Habenwollens und des Geldes, sind besessen von ständiger Angst und Sorge. Wir spielen Rollen und sind, was wir nicht wirklich sind. Das Bewußtsein unseres Ursprungs und unserer Herkunft verkümmert immer mehr, und so fallen wir am Ende in tiefen Schlaf, „Sündenschlaf“. Kein tiefer, erholsamer, sondern ein oberflächlicher, unruhiger Schlaf –  der fiebrige Schlaf eines an Leib und Seele kranken, sich auf seinem Lager hin und her wälzenden Menschen.

Wodurch werden wir geweckt?

Durch den Brief, durch den Ruf des Evangeliums, durch die Predigt, die uns an unsere Herkunft und unseren Auftrag erinnert und uns den Anstoß dafür geben, den Weg zurück anzutreten. Dorthin, von wo wir einst ausgegangen sind. Brief, Evangelium, und Predigt sind also eine Art Weckruf, der uns „in die Knochen fahren“ soll, damit wir endlich aufwachen und merken, daß es in, mit und unter unserer oberflächlichen materiellen Welt noch eine andere spirituelle Dimension gibt.

Wache auf, der du schläfst, und stehe auf aus den Toten, und der Christus wird dir leuchten!

heißt es in einem anderen christlichen Weckruf  (Eph 5,14).

Mitunter klingt der Weckruf aber auch ganz anders. Kein hartes und lautes Weckergerassel, sondern eher ein zärtliches Streicheln, wie von einem lieben  Menschen, der uns morgens mit der Hand ganz sanft über das Gesicht fährt. Jemand, der nicht will, daß wir weiterschlafen und unsere Zeit vertun. Wissen wir eigentlich noch, wer wir sind? Woher wir kommen? Wohin wir gehen? Oder haben wir es im Alltagsgetriebe schon ganz vergessen? Haben wir gar  schon angefangen, mit all den anderen zu glauben, daß Gott lediglich eine Einbildung ist und es in diesem Leben vor allem darauf ankommt, Knete zu verdienen und Spaß zu haben, weil nach dem Tode sowieso nichts mehr kommt?

Nun, dann sind wir immer noch im Schlaf, im Tiefschlaf gewissermaßen.  Dann leben wir immer noch aus den Fleischtöpfen Ägyptens. Dann dreht sich unsere ganze Existenz nur um uns selbst, um unser Einkommen und um unser Auskommen. Dann wäre es an der Zeit, sich wecken zu lassen und endlich aufzustehen.

Die Bibel sagt übrigens auch, woran man sie erkennen kann, die Frühaufsteher: An ihren Früchten,

denn die Frucht des Lichts ist lauter Güte und Gerechtigkeit und Wahrheit ( Eph 5,9).

Amen.