Ernste Betrachtungen eines Schneeflockensammlers

Die Entstehung eines Schneekristalls unterscheidet sich im  Prinzip nicht von der Entstehung menschlichen Lebens. Auch  hier eine mütterliche Eizelle, die darauf wartet, befruchtet zu  werden, das ist der Gefrierkern. In der Regel handelt es sich  dabei um Staubkörner in der Atmosphäre. Staubkorn ist ein  hässliches Wort. Ich würde andere Begriffe vorziehen. Aber  Begriffe sind immer Sache menschlicher Übereinkunft. Welche Hoffnungen auf Übereinkunft könnte ich mir machen,  wenn ich Staubkörner als „Sonnenstäubchen“ bezeichne?  Meinetwegen auch „Sonnenkörnchen“. Denn das sind sie. Wie  oft habe ich nach dem Erwachen vom Bett aus ihren unver gleichlichen Tänzen zugeschaut. Das ist nicht der unruhig  nervige, hin und her zuckende Mückentanz. Hier geht es nicht  um Fressen und Verpaarung, es geht um Hingabe, um Harmonie, um ein Sich-Wiegen und Reagieren auf empfindlichste, mit menschlichen Instrumenten nicht mehr messbare  Strömungen. Deswegen ist alles leichter, schwebender, der  unhörbaren Musik des Alls hingegeben.

Zum mütterlichen Staubkorn, der zierlichen Tänzerin also,  gesellt sich nun der Same des Mannes: das Wasser. Der Mann  kommt nicht irgendwie erhitzt ins Spiel, sondern ziemlich  unterkühlt. Überhaupt ist der ganze Vorgang der Befruchtung  eine völlig leidenschaftslose Angelegenheit: Kalte Wolkentröpfchen lagern sich an den Gefrierkern an. Und zack, schon  geht die Post ab. Der Prozess hat begonnen, das Programm  wird abgespult, nach ehernen Gesetzen, und nichts ist mehr  rückgängig zu machen. Nur eine plötzliche Temperaturschwankung könnte etwas daran ändern. Alles ist bis ins  kleinste Detail durchdacht, nichts dem Zufall überlassen. Aus  Staub und Luft und Wasser entsteht der Kristall. Und zwar  nicht irgendwie, mit zwei Ecken hier und drei Ecken dort,  nein, ganz klar und ganz präzise: sechs Ecken, hexagonale  Struktur. Jeder Kristall Widerspiegelung des einen Gesetzes,  des Fast-Rund, des aus dem Kreis gefallenen Rund. Nach der  immer gleichen Blaupause. Die erste Emanation des Nichts ist  der Kreis. Die zweite das Hexagon.

Jetzt folgen die Metamorphosen des Falls, in denen jedes Eiskristall seine eigene Individualität herausbildet. Beim Menschen ist die Individualität das Ergebnis äußerst komplizierter Vorgänge. Wir sprechen von Erziehung und Sozialisation,  wobei dem sogenannten Schicksal, also einer Bündelung von  Chaos und Turbulenzen, eine wichtige Rolle zukommt. Das ist  beim Eiskristall nicht anders. Beim Fall taucht es durch verschiedene Luftschichten mit unterschiedlicher Temperatur  und Feuchte. Danach gleicht kein einziges Kristall mehr dem  andern. Im Grunde geht es darum, irgendwie von der ursprünglichen Form des Hexagons abzuweichen. Nicht sein zu  wollen, was man ist. Der Hang zur Originalität, das kennt  man. Es gibt ihn auch in der Welt der Schneekristalle, das ist  weniger bekannt.

Ich weiß nicht, was mir an diesen vom Himmel verwehten  Habenichtsen am meisten gefällt, die kalte Schönheit ihrer  gleichmäßigen hexagonalen Strukturen, die Annäherung an  den Kreis, vielleicht auch das Minuziöse, das an das Nichtige  grenzende Filigrane, Hauchzarte, das mich an unsere Nähe  zum Nachbarn Nichts erinnert.

Ein anderer Gesichtspunkt mag überraschen. Es hat längere  Zeit gebraucht, bis ich ihn entdeckt habe. Ich meine die Tatsache, dass Engel und Eiskristalle offenbar ein ganz ähnliches  Bauprinzip haben. Engel haben, was dem Menschen fehlt,  Flügel. Damit besitzen sie zwei Gliedmaßen mehr. Sechs Glieder, das sollte zu denken geben.

Und doch haben nicht alle Engel zwei Flügel. Das ist ein alter  Streit unter Angelogen. Bei Jesaja gibt es auch Engel mit sechs  Flügeln. Jesaja dachte bei den sechsflügeligen Wesen speziell  an die Seraphen. Wenn man die Sache näher besieht, ist sie    also ein wenig komplizierter. Ich will das auch nur angedeutet haben.

Dem einfachen Menschenverstand fällt es ohnehin schwer,  sich in diese Dinge hineinzudenken. Auch mir fiel es anfangs  nicht leicht. Man glaubt sich zunächst in einem Chinoiserie-Laden, in dem alle Porzellane in der Luft stehen, statt in den  Regalen. Das erfordert radikales Umdenken. Darin liegt für  einen eher bodenständigen Menschen wie mich aber auch ein  enormer Reiz. Der Geist fängt an zu vibrieren, zu oszillieren,  am Ende rotiert er wie die Flügel eines Helikopters, immer  stärker und stärker, um schließlich abzuheben und zu schweben wie ein Engel.

Es ist bedauerlich, dass sich die Liebhaber von Eiskristallen  die längste Zeit des Jahres mit jämmerlichen Surrogaten zufriedengeben müssen. Bildbände mit Photos, ein paar Skizzen  und Zeichnungen, dazu ein paar Erinnerungen an den vergangenen Winter sind meist das einzige, was ihnen bleibt,  bevor der nächste Winter kommt. Und dann ist noch nicht  einmal gesagt, dass der Schnee bringen wird. In den letzten  Wintern hatten wir eine ausgesprochen kurze Eiskristallsaison.

Briefmarken und Schmetterlingssammler haben es besser, sie  können ihre Sammelobjekte in Alben kleben und sich das  ganze Jahr über an ihren Lieblingen erfreuen. Die Liebhaber  von Schneeflocken stehen hier vor einem ernsten Problem,  einem ähnlichen Problem übrigens wie die Liebhaber von  Engeln.

Einmal habe ich davon geträumt, Schneeflockensammler zu  sein. Andere sind Schmetterlingssammler, ich war Schneeflockensammler, warum nicht? Ich spazierte durch eine verschneite Landschaft und sammelte die schönsten Exemplare,  die ich fand. Dafür brauchte ich weder Fangnetz noch Tötungsspritze noch das ganze zum Präparieren der bunten Falter notwendige Instrumentarium, das die Schmetterlingssammelei so unerfreulich macht, sondern außer warmer  Kleidung nur eine Kühlbox, eine kleine Pinzette und eine Lupe. Die Lupe half schon beim Sammeln eine Vorentscheidung  zu treffen, denn anders als beim Schmetterlingssammeln ist  die Zahl der gefundenen Kristalle riesengroß, und da ist Beschränkung und strengste Auswahl selbstverständlich wichtig.

Nachdem ich die schönsten Exemplare mit der Pinzette vorsortiert und in der Kühlbox aufbewahrt hatte, legte ich die  Kristalle unter ein sehr starkes Mikroskop und verbrachte die  nächsten Stunden und Tage damit, mich an der Vollkommenheit ihrer Formen zu erfreuen. Der eine oder andere Kristall  musste bei näherer Betrachtung noch aussortiert werden.  Jetzt begann das Nadeln. Das war eine recht schwierige Aufgabe, da ich mich zuerst mit den Nadelungsregeln vertraut  machen musste, die wegen der feinen Nadeln, die hier erforderlich sind, ungleich komplizierter sind als bei den Schmetterlingen.

Die aufgespießten Kristalle wurden in dafür vorgesehenen,  gut auf Nut und Feder schließenden Sammelkästen verwahrt.  Es folgte der letzte Schritt: die Etikettierung. Dazu gehören  Fundortetiketten, ohne die meine Sammlung wissenschaftlich  wertlos gewesen wäre, dazu Namensschildchen. Die Namensgebung gehört beim Sammeln von Schneekristallen zu  den reizvollsten Aufgaben, und ich habe mir immer sehr viel  Mühe damit gemacht. in der Bibel heißt es, Adam habe sich  im Paradies der Namensgebung gewidmet und jedem Vieh  und Vogel unter dem Himmel, jedem Tier auf dem Feld einen  Namen gegeben habe. Namen sind beileibe nicht nur Schall  und Rauch.

Aber die gängigen Bezeichnungen waren mir offen gesagt zu  prosaisch. N1a, C1b, P1g – das sind keine Namen, darunter  kann ich mir nichts vorstellen. Sicher, sie klingen kühl und  mathematisch und passen insofern durchaus zur kalten Ästhetik der Kristalle, das will ich nicht bestreiten, aber ich liebte es poetischer. In den beiden ersten Kästen hatte ich alle  Kristalle gesammelt, die mit anderen zu Flocken und Flaumfedern zusammengepufft waren. Diese Kristallgruppen nannte ich entweder Virgines, also Jungfrauen, oder Columbae,  Tauben, zum Beispiel Columba tomentosa – die filzige Taube,  oder Columba pura und Columba sacra, was ich wohl nicht zu  übersetzen brauche.

In dem dritten und vierten Kasten befanden sich die nicht-stellaren Formen, die auch nicht unbedingt sechseckig sein  müssen, also Plättchen, Dendrite, Hohlsäulen, Prismen, Zylinder, die unter dem Mikroskop aussehen wie kleine weiße  Bleistiftstückchen.

In Kasten fünf und sechs dann die reinen, sechsstrahligen  Sterne, die sechseckig gefiederten Juwelen, alle mit der lateinischen Bezeichnung Nix – ja, Nix, nicht Nix wie Nichts, was  naheliegend wäre, sondern Nix wie Schnee. Wenn mir das  Kristall zu stachelig erschien, nannte ich das Exemplar Nix  spinosissima oder Nix acicularis den nadelspitzigen. Nix setigera war das borstentragende Nichts, Nix villosa das zottige  Nichts, Nix blanda das reizende Nichts, Nix alpina, das aus  den Alpen stammende, was sich nicht auf den Herkunftsort,  sondern auf die gletscherweiße Farbe bezog.

Ich gebe zu, dass ich dabei einige Anleihen bei der für die Bezeichnung von Rosen üblichen wissenschaftlichen Namengebung gemacht habe. Rosen und Eiskristalle – ein neues  Thema, das ich an dieser Stelle besser übergehe.

Am liebsten sind mir die ganz reinen Formen, jene die dem  klaren, hexagonalen Grundgedanken am nächsten stehen. Die  waren im letzten Kasten enthalten, den ich wie meinen Augapfel hütete. Ich habe sie Cherubim und Seraphim genannt.  Diese Juwelen waren das Reinste, was ich jemals in meinem  Leben gesehen habe.

Alle Kästen trugen die Aufschrift „Meine Eiskristalle“; es waren sechs Kästen. Sie standen im Gefrierfach meines Eisschranks.

Irgendwann ist es dann passiert. Es gab einen Stromausfall.  Kurzschluss oder irgendwas in der Art. Ich war gerade nicht  zu Hause. Als ich zurückkam und die große Wasserlache vor dem Kühlschrank sah, ahnte ich die böse Bescherung. Die  Sammlung war vollständig ruiniert. Als ich die Kästen aus  dem Gefrierfach nahm und sie öffnete, war darin alles leer,  ganz leer. Nichts, nur hier und da perlte noch ein Tropfen wie  Tau von der Nadel.

Soviel zum Nichts. Habe ich das wirklich geträumt?

Nein, ich habe eine Geschichte erzählt.

Aber was ist der Unterschied zwischen einem Traum und einer Geschichte?

Träume sind Geschichten im Schlaf, manche Geschichten sind  Wachträume.

Facebooktwittergoogle_plusredditlinkedinmail

2 Kommentare

  1. Angesichts der derzeit herrschenden Temperaturen und Schneeverhältnisse finde ich, daß dieser Artikel hervorragend für das aktuelle „Wort am Sonntag“ paßt, und erlaube mir, ihn morgen auf meinem Blog zu verlinken (ich hoffe, Sie haben nichts dagegen).

    Frostige Grüße aus den Alpen- & Donaug… … OMG! … … ich meinte natü4rlich: aus Ösistan!

    LePenseur

    1. Nein, natürlich nicht. Mit ebensolchen Grüßen aus der Altmark (bin gerade mit meiner Sammlung beschäftigt), HD

Kommentare sind geschlossen.